Interview in der Wiener Zeitung vom 10.8.2018
Von Christine Dobretsberger
„Seelenverwandte“ (Folge 2): Die Psychotherapeutin Christl Lieben und die Kabarettistin Nadja Maleh über Wesensähnlichkeiten, Resonanzen, Humor in allen Lagen – und die Inszenierungen des Lebens.
„Ich bin bei der Aufnahmeprüfung am Reinhardt-Seminar auch durchgefallen! Das haben wir also gemeinsam“: Nadja Maleh (l.) und Christl Lieben.
„Wiener Zeitung“: Frau Maleh, Sie haben vor einiger Zeit eine Rezension über Christl Liebens Buch „Die Liebe kommt aus dem Nichts“ geschrieben. Beim Lesen dieser Zeilen hatte ich den Eindruck, dass Ihnen dieses Buch sehr nahe gegangen ist . . .
Nadja Maleh: Ja, auf jeden Fall! Dieses Buch hat mich auf vielen Ebenen sehr berührt.
Christl Lieben: Wie sind Sie überhaupt auf mein Buch aufmerksam geworden?
Maleh: Ich gehe oft intuitiv in eine Buchhandlung und greife immer zum richtigen Buch. Es war keine Empfehlung, ich habe es einfach gesehen und dachte: Das! So ist ganz viel in meinem Leben. Beim Lesen war da sicher das Gefühl einer Seelenverwandtschaft zu Ihnen. Aber von Ihnen zu mir?
Lieben: Schon auch. Ich war vor kurzem bei Ihrem Abend im Wiener Lokal CasaNova und da hat mir sehr gut gefallen, wie Sie die Frauen dargestellt haben. Meistens sind die Frauen ja das Opfer der Welt, gerade jetzt. Sie haben aber die Kraft, die Souveränität und Eigenständigkeit der Frauen herausgestellt. Das war sofort ein Faden zu Ihnen! Es war auch herrlich, wie Sie gesagt haben, die Frauen betrügen ihre Männer genauso wie die Männer ihre Frauen, nur sind sie geschickter. Wunderbar!
Frau Lieben, sich mit seelischen Dingen auseinanderzusetzen ist Ihr Beruf. Wie denken Sie prinzipiell über das Thema Seelenverwandtschaften? Woher rührt dieses Gefühl, das wohl jeder schon erlebt hat: Man trifft einen Menschen zum ersten Mal in seinem Leben und hat den Eindruck, ihn schon ewig zu kennen. Ist das ein Zufall oder hat das mit besonderer Sensibilität zu tun?
Lieben: Nein, es ist eine Resonanz, eigentlich ein Resonanzeffekt. Wir haben unterschiedliche innere Verfassungen und dann treffen wir jemanden, der mit seiner Verfassung in dieses Schema hineinpasst. Hinzu kommen ähnliche Anlagen, vielleicht ein ähnliches Schicksal. All das schwingt dann zusammen und ergibt das Gefühl, sich sozusagen ewig zu kennen. Diese Verwandtschaft und plötzliche Nähe kennen wir alle – mit Männern und Frauen. So etwas ist wahnsinnig schön, weil man muss sich nichts erklären.
Maleh: Für mich ist es auch so: Man ist ja selber wie ein Lied, eine Melodie – und dann hört man ein Lied oder eine Melodie und das harmoniert und ergibt dann zusammen etwas Zweistimmiges oder einen Chor.
Lieben: Oder eine gemeinsame Melodie.
Maleh: Und so erging es mir beim Lesen Ihres Buches. Es gab einfach einige Parallelen, in denen ich mich wiedererkannt habe. Auch Fragen, die ich gerade gehabt habe, wurden neu beleuchtet.
Lieben: Sicher spielen auch eine gewisse Wesensähnlichkeit oder ähnliche Themen und Erfahrungen eine Rolle. In einer anderen Phase Ihres Lebens hätten Sie vielleicht gar nicht zu diesem Buch gegriffen. Es hat eben gerade gepasst.
Frau Maleh, Ihre Mutter – Margaretha Maleh – ist ebenfalls Psychotherapeutin. Ich nehme an, da gibt es zwangsläufig ein Naheverhältnis zu diesem Beruf.
Maleh: Wenn man als Tochter einer Therapeutin und eines Arztes aufwächst, schaut man bei verschiedenen Themen natürlich genauer hin. Vielleicht hat man auch einen doppelten Poscher (Schaden, Anm.), ich weiß es nicht.
Aber ein Berufswunsch war Psychotherapie nie für Sie?
Maleh: Der Beruf an sich nicht, aber was damit verbunden ist, schon. Damit meine ich: beizutragen zur Heilung von Menschen. Und das mache ich auf meine Art.
Lieben: Jetzt habe ich eine ganz persönliche Frage: Wie ist es, die Tochter einer Psychotherapeutin zu sein? Ist das manchmal mühsam, qualvoll, fühlt man sich verfolgt, analysiert, auseinandergenommen oder hält man das aus? Ich frage das, weil ich selbst eine Tochter habe.
Maleh: Ich fand das super! Ich habe mit meiner Mutter schon als Jugendliche Tarot-Karten gelegt und so viel von ihr gelernt! Ich habe ihr immer mit großen Ohren zugehört. Sie hat mich auch speziell beraten können, wenn ich irgendein Thema in meinem Leben hatte – als Mutter, aber auch als Therapeutin, sie konnte das gut zusammenbringen. Ich bewundere sie auch. Sie ist seit drei Jahren Präsidentin von „Ärzte ohne Grenzen Österreich“ und war zuvor jahrelang auf Einsatz in Krisengebieten. Normalerweise ist die Tochter in der Welt unterwegs und die Mutter sitzt zu Hause und macht sich Sorgen. Bei uns war es umgekehrt: Die Mutter war in Kurdistan oder Papua Neuguinea und ich fahre maximal nach Krems mit meinen Tourneen! In Krems bin ich relativ sicher, auch in Nürnberg ist mein Leben noch nicht akut gefährdet, aber sie war wirklich in Gegenden, wo man sich Sorgen gemacht hat.
Frau Lieben, Sie selbst haben ja auch eine künstlerische Ader. Als junge Frau hatten Sie den Wunsch, Theaterregie zu studieren. Das heißt, Bühnenkunst ist für Sie ein reizvolles Thema?
Lieben: Ich wollte Regie machen und letztlich, wenn ich im Rahmen meiner therapeutischen Arbeit mit systemischen Aufstellungen arbeite, ist das Regiearbeit. Allerdings keine, die ein Drehbuch hat, das Drehbuch ist das Problem oder das Thema der Klienten.
Sie haben der Tatsache also nie nachgeweint, dass Sie nicht am Theater gelandet sind?
Lieben: Nein. Ich wollte die Ausbildung am Reinhardt-Seminar machen und bin bei der Aufnahmeprüfung mit dem Monolog der „Jungfrau von Orleans“ gleich einmal durchgefallen.
Maleh: Ich bin bei der Aufnahmeprüfung auch durchgefallen! Das haben wir also gemeinsam!
Lieben: Elisabeth Orth, die im selben Jahrgang war wie ich, ist durchgekommen.
Wobei Sie ursprünglich als Schülerin ohnehin den Plan hatten, Psychologie zu studieren. Allerdings schreiben Sie in Ihrem Buch, dass Ihnen ein Berufsberater mit dem Argument davon abgeraten hatte, Sie seien für diese Sparte zu sensibel. Ist Sensibilität nicht eine Grundvoraussetzung für eine Psychotherapeutin?
Lieben: Natürlich! Das war ein ziemlich blöder Rat, aber es hat mir trotzdem was gebracht. Hätte ich mit 18 begonnen, Psychologie zu studieren, hätte es im Anschluss daran noch gar nicht die entsprechenden Möglichkeiten für eine Psychotherapie-Ausbildung gegeben. Im Jahr 1955 hat es nur die Analytiker gegeben, keine anderen Ausbildungen. Dann wäre ich also durch die Mühle der Uni getrieben worden und es hätte mir aus den Ohren gestaubt, und dann hätte ich versucht, mit diesem Staubhaufen Leute zu beraten. Mit 25 – lächerlich! Stattdessen habe ich in diesen Jahren viele andere Sachen gemacht: in der Konzertagentur meines Mannes mitgearbeitet, dann habe ich eine Goldschmiedelehre absolviert und meine eigene Werkstätte eröffnet. Erst mit Mitte 30 habe ich begonnen umzusatteln. Das war der richtige Augenblick, erstens weil es bereits andere Methoden gegeben hat, und vor allem, weil ich schon eigene Lebenserfahrung sammeln konnte und ein bisschen gewusst habe, wovon man redet.
Was war Ihr erster Berufswunsch, Frau Maleh?
Maleh: Ich wollte immer Schauspielerin werden, schon als Kind.
Klassische Schauspielerin?
Maleh: Ja. Ich sage immer: Wenn man wissen will, was die eigene kreative Goldader ist, dann sollte man sich fragen: Was habe ich als Kind gerne gemacht? Wovon habe ich geträumt? Ich habe als Kind davon geträumt, Schauspielerin zu werden, ich habe gesungen, ich habe gezaubert – all das mache ich jetzt auf der Bühne. Und ich habe als Kind Lehrerin gespielt. Das hat sich ebenfalls insofern verwirklicht, weil ich immer wieder Workshops mache.
Lieben: Was für Workshops sind das?
Maleh: Zum Beispiel Kreativitätsworkshops. Dabei geht es um Selbsterfahrung, um das Ausschöpfen des eigenen Potenzials mit künstlerischen Mitteln, ein bisschen unter dem Motto „Kreativität und Humor für die Bühne des Lebens“.
Lieben: Das ist schon sehr therapeutisch. Sie sind eine verkappte Therapeutin!
Maleh: Ja, völlig!
Ist Humor im übergeordneten Sinne auch im Rahmen einer Psychotherapie ein Thema?
Lieben: Ich sage nicht, die Leute sollen humorig sein, aber vor allem in Gruppen kann es passieren, dass am Rande eine kleine Seltsamkeit passiert, wenn sich eine Situation zuspitzt. Dann mache ich eine humorvolle Bemerkung darüber, alle lachen und dem Ganzen ist die Spitze genommen, aber nicht die Tiefe. Die Tiefe kann dann leichter fließen, weil sie nicht so hoch stilisiert wird.
Eine gewisse Situationskomik einzubauen, ist also fast so etwas wie ein therapeutischer Schachzug?
Lieben: Nicht bewusst. Mein Wesen ist so. Ich habe einen ziemlichen Instinkt für Situations- und Sprachkomik. Wenn solche Dinge passieren, kann ich es nicht verhindern, etwas dazu zu sagen. Da müsste man mich aus dem Raum schicken. Aber diese Kommentare sind mir noch nie übel genommen worden. Ich mache mich ja nicht lustig über jemanden, sondern ich zeige nur die lachende Seite, die ja liebevoll ist. Es ist ein liebevolles Lächeln. Und dieses liebevolle Lächeln umfängt ja den Menschen, und die Leute bedanken sich auch sehr oft dafür. Es ist ein Teil meines Arbeitens.
Frau Maleh, es ist kein Geheimnis, dass gerade Künstler aus dem komödiantischen Fach privat mitunter eher ernste Menschen sind. Was ist Ihre Motivation, wenn Sie als Kabarettistin auf der Bühne stehen?
Maleh: Ich denke, als Künstlerin beschäftigt man sich mit seinen Gefühlen, und zwar mit allen. Man malt mit allen Farben von der Palette, nicht nur mit einer. Insofern habe ich mich auch nicht gegen Humor wehren können. Ich bin das einfach. Und genauso bin ich manchmal ernst, traurig, melancholisch, dramatisch. So wie Max Reinhardt gern zitierte: „Nichts Menschliches ist mir fremd“. Die ganzen Figuren, die ich auf der Bühne auslebe, das sind alles Teile von mir, die ich manchmal ein bisschen wegrücke. Aber die wollen alle raus! Das Material bin immer ich.
Ist es nicht so, dass jeder Mensch im Grunde seines Wesens viele verschiedene Begabungen und Facetten hat, die einem selbst vielleicht gar nicht so bewusst sind?
Lieben: Ja, das ist der Punkt.
Wäre es Ihrer Ansicht nach ratsam, wenn man sich mehr mit diesen verschütteten Wesenszügen beschäftigen würde?
Lieben: Das macht das Leben, weil jeder gerät einmal in eine Krise. Und die Krise macht es möglich, dass andere Seiten rauskommen oder schon vorhandene Seiten sich wandeln. Die Krise, der Druck, der Schmerz, aber auch wieder die Befreiung davon machen den Menschen vollständiger. Manche Leute leben wirklich nur einen kleinen Ausschnitt ihrer Möglichkeiten, alles andere ist nicht bewusst. Sehr oft sind einzelne Möglichkeiten durch Eltern, Geschwister oder andere wichtige Personen repräsentiert und werden sozusagen nach außen projiziert. Man selbst kommt gar nicht auf die Idee, dass man diese Seiten auch in sich trägt. Aber wenn man mehr gefordert wird, dann findet man das plötzlich in sich und kann dann auch die äußeren Projektionen loslassen und die Menschen rund um sich anders sehen oder auch freigeben.
Das heißt, Veränderung passiert Ihrer Meinung nach am ehesten, wenn schwierige Situationen auftreten. Andernfalls würde man diesen Schritt nicht machen?
Lieben: Leider ja. Man hat ja keinen Grund dazu. Man ändert sich nur, wenn Druck kommt oder eine Aufforderung, also wenn irgendetwas passiert, wo man sich zusammennehmen muss. All diese Situationen machen es möglich, dass innerlich etwas aufgeht und Ungeahntes hervorkommen kann.
Aus welcher Ecke Ihrer Persönlichkeit kommt die Gabe, perfekt unzählige Akzente und Dialekte imitieren zu können? Angefangen von Sächsisch, Indisch, Arabisch . . .
Maleh: Ich bin ja mit verschiedenen Kulturen aufgewachsen. Von meiner Biographie her war nichts normal. Ich habe einen syrischen Papa, eine Tiroler Mutter und noch dazu meine Fantasiewelt. Es war nichts normal und von daher ist für mich so viel möglich. Ich habe mich auch immer für Sprachen interessiert. Wenn wir bei der Familie meines Vaters waren, habe ich Arabisch gesprochen oder bin oft ins Englische oder Französische ausgewichen. Bei der Familie meiner Mutter habe ich Tirolerisch geredet, dann in Wien Wienerisch. Für mich ist es mein Leben lang wichtig, dass ich dort, wo ich gerade bin, mit den Menschen gut kommunizieren, mich verständlich machen kann. Das ist eine Begabung, da kann man nur sagen: danke!
Welche Initialzündung muss passieren, dass Sie sagen: Das ist jetzt der rote Faden für ein neues Programm?
Maleh: Der rote Faden ist immer genau das, was mich gerade bewegt. Dann habe ich die Antennen ausgefahren, immer ein kleines Notizbuch dabei und sammle die ganze Zeit. Mein nächstes Programm, das im Herbst Premiere hat, heißt „Hoppala!“, da geht es um Fehler, um Ausrutscher. Momentan habe ich also den Hoppala-Filter – und bin auf dieses Thema sensibilisiert.
Abschließend noch ein Wort zum Thema Authentizität. Ist es Ihrer Erfahrung nach tatsächlich so, dass der Funke nur dann zum Publikum überspringen kann, wenn man als Künstler in seiner Darbietung 100 Prozent authentisch ist?
Maleh: Auf jeden Fall! Ich mache keine großen Aufwärmübungen, bevor ich auf die Bühne gehe, aber ich verbinde mich im Herzen. Das ist eine Sekunde, nur eine ganz kurze Fokussierung. Dann kann alles Mögliche passieren.
Frau Lieben, in Ihrem Buch fällt der Satz „Wenn ich in meiner Herzenstiefe bin, dann spüren das meine Klienten, und wenn wir Glück haben, öffnet sich dann auch ihre Herzenstiefe“. Wie darf man das genau verstehen bzw. wie harmoniert in Ihrem Beruf diese Form von Authentizität mit der notwendigen Abgrenzung zu Ihren Klienten?
Lieben: Es gibt deshalb kein Problem mit der Abgrenzung, denn wenn wir in unserem Herzensgrund ruhen, sind wir ganz bei uns. Und wenn wir ganz bei uns sind, dann können wir uns unbeschadet in alle Richtungen öffnen und unser Herz fließen lassen, ohne aus unserer Mitte zu fallen. Am Herzensgrund ist die Kraft des Herzens leicht und scheinbar unerschöpflich.