Die Morgenröte der Seele

Über die Seele zu schreiben ist ein widersprüchliches Unterfangen. Wie kann man über etwas schreiben, das sich so gänzlich dem Wort entzieht. Und doch hat jede Kultur ihre Definition der Seele gefunden, in dem unstillbaren Wunsch, ihrer habhaft zu werden, sie durch das Bild oder das Wort be-greifbar zu machen. Ich bin im christlichen Teil der Erde geboren und aufgewachsen, daher entspricht mein Konzept der Seele dem Gedankengut dieses Kulturkreises. Dessen ungeachtet möchte ich im weiteren von meinem Bild der Seele sprechen, denn ich bin es, die fühlt und erlebt, was „Seele“ für mich ganz persönlich bedeutet.

Der Raum in mir, in dem mein Wille mit dem Willen der schöpferischen Urkraft, oder dem Willen Gottes, wie immer man es nennen möchte, zusammenfällt, das ist meine Seele. Sie ist der Raum, wo alles ganz einfach und selbstverständlich wird, denn dort bin ich meiner wahren Natur am nächsten. Auf dem Grund meiner Seele begegne ich der Quelle, die mich am Leben erhält und die um meinen Weg weiß. Ich bin, wie alles andere auch, in Form gegossene Schöpferkraft, ob ich will oder nicht, ob ich es weiß oder nicht. Erst durch die Hinwendung meines Ich-Bewußtseins zu dem göttlichen Potential in mir, beginnt Erkennen, beginnt der Dialog zwischen meiner Seele und mir, beginnt ein bewusster Weg der Entfaltung.

Mein Ich kann sich diesem Weg widersetzen, gefangen im Alltäglichen, in gesellschaftlichen Normen und Glaubenssätzen. Die Seele hat Zeit, sie wartet, denn sie war immer da und wird immer da sein. Sie ist die gewährende Liebe , die der Schöpfung zugrunde liegt und sie ist das Lächeln der Freude über die Schönheit der Schöpfung.

Das Leid hingegen, dem wir begegnen, ist nicht im Sinn der Schöpfung, ist nicht Werk der Schöpfung und nicht Inhalt der Seele. Es ist Menschenwerk, entstanden aus unserem „nicht-besser-verstehen“, aus unserem hilflosen Umgang mit dem freien Willen. Ein Irrtum unseres Ich-Bewusstseins, abgetrennt vom Seelengrund. Musste das so kommen? Mussten wir unserem Ursprung verloren gehen, um ihn bewusst zu suchen, durch alle Schmerzen und Zweifel hindurch zu finden?

Der einzige Zweck der Schöpfung sei es, so sagt man, sich im Geschaffenen wieder zu erkennen. Erkennen setzt Distanz zwischen Erkennendem und Erkanntem voraus. Das irrende, sich vom Grund immer mehr entfernende Ich schafft diese Distanz, aber das selbe Ich vernimmt irgendwann die Stimme der Seele und begibt sich auf die Suche nach ihr. Ermöglicht erst dieses, sich entfernende und wieder nähernde Ich als Exponent der Materie den Schöpfungsprozess? Ist es in der Rolle des Judas, der Christus verrät und damit den Kreuzes- und Erlösungsweg einleitet? Ist das der Grund, warum der Weg des Erkennens ein scheinbar schmerzerfüllter sein muss, ein aus dem Leid geborener? Ist das im Sinn der Schöpfung? Oder währt der Schmerz nur so lange wie wir nicht erkennen? Warum erscheint uns der Weg nach innen so mühselig, wenn er uns doch die Erlösung verspricht? Welchen Anteil an dieser Sichtweise hat die katholische Kirche, die nachhaltig versucht, uns den Weg als schier ungangbar darzustellen und uns doch ständig auffordert, ihn zu gehen. Einen Weg, gezeichnet von Ich-Ausstreichung, Askese, Lebensfeindlichkeit, Vereinsamung und Verfolgung bis zum Märtyrertod. Warum spricht sie so wenig von Auferstehung, von Liebe und Freude, von Weite und Leichtigkeit, die aus der Geborgenheit im Seelengrund erwächst. Zu wenig auch ist die Rede von der unverlierbar wichtigen Rolle des Ich. Nur das Ich-Bewusstsein kann erkennen, was die Seele schon weiß und in erkennendem Verstehen sich aus seinen Fesseln lösen, um durchlässig zu werden für den Willen Gottes. Das Ich wird so zum kostbaren Werkzeug für die Seele, den Willen der Schöpfung ins Leben hinein zu gestalten. Warum ist es so schwer, sich der Führung der Seele anzuvertrauen? Sind wir überzeugt, dass wir es wirklich wert sind, von Gott durch die Seele wahrgenommen zu werden? Immer schieben wir unser mangelndes Selbstbewusstsein lieblosen Müttern in die Schuhe, aber was ist das gegen 2000 Jahre Ich-Verteufelung durch Mater Ecclesia höchstselbst? Wir haben es doch gelernt: „Oh, Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach …“ also Asche aufs Haupt und nieder auf die Knie – „mea culpa, mea maxima culpa“ – „aber sprich nur ein Wort und meine Seele wird gesund“, kommt zu spät und falsch im Text. Es postuliert eine unwürdige und kranke Seele. Wer befreit uns von der Last dieses Vorurteils?! Oder kleben wir zu sehr an der Geschichte des Christentums, die überfrachtet ist von Dahingemetzelten und Geschundenen, von Inquisition und blutigen Kriegen?

Ist die Verherrlichung des Leides, das mit dem Weg untrennbar verbunden scheint, nicht ein entsetzliches Missverständnis – der Weg als schmaler Pfad zwischen Schuld und Sühne. Wie kann man sich freiwillig einem solchen Weg ausliefern? In den meisten Kirchen begegnen wir vornehmlich dem Gekreuzigten, viel seltener dem erlösten Strahlenkranz der Auferstehung. Also Tod vor Leben, Schmerz vor Freude. Liebe hätten wir lernen sollen in den letzten 2000 Jahren, bei der Vergötzung des Leides sind wir gelandet. Ein Irrweg, der umso gefährlicher ist, als er einen Kern Wahrheit enthält. Wir haben es alle in unserem Leben erfahren „durch Leid reift man“. Es stimmt. Aber warum stimmt es? Leid ist das bisher effektivste Mittel gewesen, um erstarrte Lebensmuster zu durchbrechen und neues Erkennen möglich zu machen. Woran liegt das? Ausschließlich an unserem Lebenskonzept „Leid macht uns reif und Freude oberflächlich“ heißt der Glaubenssatz unserer Tradition.

Warum versuchen wir es zur Abwechslung nicht einmal umgekehrt? Erlauben wir es doch der Freude, unsere erstarrten Lebensmuster zu durchbrechen und neues Erkennen möglich zu machen! Christus ist zwar am Kreuz gestorben, aber er ist nicht dort geblieben, sondern auferstanden in der Verklärung. Er hat das Kreuz genommen und so wurde es Durchgangstor und nicht Endstation. Der Fluss des Lebens kommt nur schmerzhaft zum Stehen, wenn wir uns ihm verweigern. Wir können manchmal Leid nicht verhindern, aber wenn wir „ja“ sagen zu dem, was gerade ist, wird unser Blick frei für das Licht der Auferstehung. Nicht im leidvollen Verharren geschieht Erlösung, sondern indem wir durchgehen und das Leid hinter uns lassen. „Annehmen was ist und das Beste daraus machen“ hat einmal jemand gesagt,

“ … auf dem leichtesten Weg“ wage ich hinzuzufügen.

Wahrscheinlich geht es in Zukunft darum, in der Hinwendung zu unserer Seelentiefe die Freude bewusster wahrzunehmen und ihr alle Chancen der Verwandlung einzuräumen, die wir bisher nur dem Leid zugestanden haben. Dann wird es möglich sein, ohne Angst die Stimme der Seele in uns zuzulassen, auf dass uns Befreiung geschehe – nicht irgendwann, irgendwo „drüben“, sondern hier und jetzt. Vertrauen wir uns doch dem Unnennbaren der Seele an, dem Nicht-Wissen, für das uns die Sprache fehlt, das uns aber in Augenblicken der Stille und des Verweilens aus unserer Tiefe entgegenleuchtet. Vielleicht verdämmert gerade jetzt der hoch gepriesene „Weg über das Leid“ in der Vergangenheit und vor uns liegt die Morgenröte des freudigen Erkennens – im Fluss des Lebens.