Arbeit im Grenzbereich Behinderung

Nachfolgender Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Verzeihung, sind Sie mein Körper?“ von Lieben/Renoldner, Kösel-Verlag (2011)

Vor dem Hintergrund der Überlegungen zu Beginn des Buches möchte ich gerne von meiner Arbeit mit Behinderten erzählen, um zu veranschaulichen, wovon dort schon die Rede war, denn extreme Situationen führen zu transparenteren Informationen, als dies der übliche Therapiealltag möglich macht. Abgesehen davon berührt und bewegt mich diese Arbeit sehr.

Das Folgende erhebt keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, es handelt sich um einen Erlebnisbericht. Bevor ich jedoch meine Erzählung beginne, möchte ich hervorheben, dass ich bei der Arbeit mit Behinderten rein phänomenologisch vorgehe. Das heißt, ich betrachte die Aussagen der Aufstellungen als »wahr«. Ich arbeite mit den Aufstellungsergebnissen, als wären sie Tatsachen, da es bei diesen Klienten keine Möglichkeit einer Rückkoppelung über Sprache gibt, um die Ergebnisse zu verifizieren.

Ich hatte im Laufe der Jahre bei der Begleitung von Familienaufstellungen wiederholt die Erfahrung gemacht, dass sich die Repräsentanten von schwer behinderten Familienmitgliedern frei und souverän äußerten, ihre körperliche Verfassung als angemessen bezeichneten, ihren Weg und ihre Bestimmung kannten und auch manchmal über das Schicksal anderer Familienmitglieder Bescheid wussten. Zum Teil agierten sie wie eine überpersönliche Instanz und baten nur die Familie, sich weniger Sorgen zu machen. Der Weg des Kranken sei »stimmig«.

Ich versuchte, dieses Phänomen zu verstehen, und kam zu folgender Hypothese: Im Sinne des »Doppelten Ursprungs« (Dürckheim) sind wir aus Geist und Materie geboren und tragen demnach zwei Bewusstseinsräume in uns: einen, der dem geistigen Aspekt in uns verpflichtet ist, und einen, der dem Bewusstsein um unsere Zugehörigkeit zur Materie entspricht.

Im »normalen« Leben scheinen sich die beiden Bewusstseinsbereiche zu überlappen und zu durchdringen und können auf diese Weise schwer isoliert wahrgenommen werden. Wenn aber der Körper sich in seinem Bewusstsein im Zuge einer existenziellen Erkrankung ganz eng zusammenzieht, dann scheint der Geist ein freies Potenzial zu sein, das den Körper am Leben erhält, damit der Weg gegangen werden kann bzw. der Körper in seinem Kern die Sinnhaftigkeit seiner Verfassung erkennt, um den Weg zu ertragen. In so einem Fall sind Geist-Ebene und Körper-Ebene fast wie voneinander isoliert wahrnehmbar. Ich nenne sie das »freie« und das »gebundene Bewusstsein«.

Eines Tages, im November 2005, traf ich Christoph, einen Maler-Freund, der mit Schwerbehinderten arbeitet. Selbst ein begabter Maler, leitet er mit dem ganzen Einsatz seiner Persönlichkeit eine »Malklasse« in einem Tagesheim für Behinderte. Ich erzählte ihm von meinen Überlegungen, was das Geist-Körper-Verhältnis von Behinderten betraf, und von meinem Wunsch, tiefer in dieses Thema einzusteigen. Er war offen dafür und ab Februar 2006 begann ich, einmal in der Woche in seiner Malklasse mitzuarbeiten.

Die Arbeit begann mit einer wesentlichen Erkenntnis: Die Leiterin des Heims erklärte mir, dass ihre Klienten aus unserer Sicht zwar behindert, aber in ihrer eigenen Realität vollständige Menschen und auch als solche zu behandeln seien. Dieser Zugang berührte mich sehr und erinnerte mich an die Aussagen der Repräsentanten von Behinderten in den Familienaufstellungen.

Christoph wählt aus der Malgruppe zwei seiner Klienten, Greti, Ende 50, und Hubert, in ähnlichem Alter, mit denen wir hauptsächlich arbeiten werden.

Drei Tage, bevor ich beginne, mit ihnen direkt Kontakt aufzunehmen, stellen wir für beide auf, um eine Ahnung von der Art ihrer inneren Thematik zu bekommen. Für Greti stellen wir folgende Positionen:

Greti in ihrem gebundenen Bewusstsein,

Greti in ihrem freien Bewusstsein,

Christoph als Bezugsperson.

Für Hubert wählen wir dasselbe Format. Christoph stellt auf, ich gehe in die Positionen.

Gretis gebundenes Bewusstsein fühlt sich bleiern, gefesselt und elend an, wie in einen Panzer gepfercht. Christoph schickt mir – als Repräsentantin von Greti – mental Farben zur Unterstützung, ein wunderbares Blau beruhigt und bedeckt mich, ein Orange belebt. Das Orange siedelt sich im Herzbereich an. Die Visualisation von Farben ist eine effektive therapeutische Maßnahme, um vage Bewusstseinsinhalte zu erfassen.

Zu Christoph hat das gebundene Bewusstsein einen vertrauensvollen, zum eigenen freien Bewusstsein keinen Bezug.

Das freie Bewusstsein weiß von einem sehr frühen, schweren Trauma in Gretis Leben und von ihrem Entschluss, sich durch Rückzug in ihre Behinderung vor der Welt zu retten.

Huberts gebundenes Bewusstsein fühlt sich ähnlich schlimm an, sein freies Bewusstsein hingegen ist ein wunderbarer gelbgoldener Lichtstrahl, völlig frei und teilt uns mit, dass Hubert sein Leben in dieser Form »gewählt hat«, sich innerlich wie dafür entschieden hat.

Drei Tage später beginne ich im Heim zu arbeiten, nicht ohne vorher die Sachwalter um Erlaubnis gebeten zu haben. Nach den ersten gemeinsamen Stunden hole ich mir auch von Greti und Hubert eine Einwilligung.

Eine Überraschung erwartet Christoph und mich. Wir kommen in das Malatelier der Gruppe und sehen als Erstes auf einer Staffelei ein großes Bild – ganz in dem wunderbaren Blau, das Christoph mir geschickt hatte, als ich in Gretis Rolle des gebundenen Bewusstseins stand – mit einem orangenen Flämmchen im Zentrum: exakt, was ich erlebt hatte.

Was war geschehen? Inge, eine Klientin aus dieser Malgruppe, die üblicherweise ausschließlich Gesichter malte, hatte über das Wochenende dieses Bild gemalt – zur Verblüffung aller.

Als ein Teil dieser Klientengruppe war sie offen für die Informationen und Veränderungen in dem Gruppenfeld und stellte das dar, was sie über das gemeinsame Feld erreichte. Repräsentierend für Greti hat Inge die Informationen der vorangegangenen Aufstellung sichtbar gemacht.

Anders war es bei Hubert. Er hat offenbar direkt Aspekte seiner Aufstellung aufgenommen. Bisher hatte er meistens nur in Schwarz, manchmal auch in Rot gemalt. Jetzt gab es ein Bild, auf dem sich im Zentrum der Schwärze eine goldgelbe Fläche öffnete. Hat Hubert sein freies Bewusstsein »gesehen«?

Ich respektiere die Aussagen seines freien Bewusstseins, Huberts Schicksal sei bewusst angenommen. Ich nehme Hubert nur wahr, ohne selbst Impulse zu setzen, und so wird es auch bleiben. Meine »Arbeit« mit ihm erfüllt sich in konkreten Handreichungen, wie beispielsweise seine verlorene Brille wiederzufinden und aufzusetzen, sein herausgefallenes Gebiss zu retten, ihn im Rollstuhl zurechtzurücken. Oft sitze ich einfach still neben ihm, und es entsteht ein Frieden zwischen uns, der uns beiden guttut. Wenn wir allein im Raum sind, wendet er mir manchmal sein Gesicht zu und strahlt mich an mit seinen gütigen Augen, deren Blick wie von weit her kommt.

Aber jetzt zu Greti, sie ist die Protagonistin meiner Geschichte: Greti sitzt spastisch gelähmt in einem Rollstuhl, mit nach innen gezogenen Ellbogen und zu Fäusten verkrampften Händen. Sie versteht, aber sie kann kaum sprechen. Umso intensiver kann sie nicken, lachen und unfreundlich schauen. Außerdem gehört ein unnachahmliches »Nein« zu ihrem Ausdrucksrepertoire, dem ich immer wieder begegnen sollte. Sie malt nur mit dem Mund, wenn ihr jemand eine Leinwand hinstellt, den Pinsel in die Farben taucht und ihr in den Mund steckt.

Sie malt kräftige senkrechte Striche oder Halbmonde, unermüdlich, Tag für Tag. Das heißt, in letzter Zeit hatte sie weniger gemalt, sie war in eine Depression geglitten.

Christoph stellt mich ihr vor, und ich beginne meine Arbeit als völlig ahnungsloser Mensch. Ich habe keine Vorstellung von den Funktionsabläufen und Bewusstseinsebenen Behinderter, habe keine Erfahrung und habe mich vorher auch nicht informiert. Schon gar nicht habe ich nach der Diagnose gefragt.

Mein Zugang ist, mich mit ihrem freien Bewusstsein innerlich zu verbinden und es durch den Körper von Greti hindurch – also durch ihr gebundenes Bewusstsein – anzusprechen. Ich möchte ihr freies Bewusstsein mit ihrem gebundenen Bewusstsein in Berührung bringen und sehen, was geschieht, wenn Geist und Körper beginnen, miteinander in Kontakt zu treten. Üblicherweise werden diese beiden Ebenen durch den Ich-Kern verbunden und gesteuert. Im Fall von Greti und ähnlichen Fällen gibt es diesen Ich-Kern nicht in der Form, wie wir ihn kennen. Ich ersetze ihn daher mit meinen Intentionen kurzfristig, gerade so lange, dass eine Begegnung der beiden Ebenen wirksam stattfinden kann.

Die emotionale Ebene in Greti, was wird sie tun? Gibt es sie und in welcher Form? Ich lasse diese Überlegungen links liegen und bin offen für das, was mich erwartet.

Ich setze mich Greti gegenüber. Wir lachen uns gleich gegenseitig an. Ich spreche sie an, im völligen Vertrauen, dass sie mich verstehen wird: »Greti, ich sag dir jetzt etwas und ich weiß, du wirst mich verstehen.« Heftiges Nicken ihrerseits, ein neugieriger Ausdruck in ihren Augen. Ich fahre fort: »Du hast in deiner Kindheit schreckliche Dinge erlebt, aber das ist längst vorbei und kommt auch nie wieder. Du kannst deine Hände jetzt ausstrecken und nach deinem Leben greifen. Es wird dir gefallen.« Ihre Augen lachen – wieder heftiges Nicken.

Ich beginne behutsam ihre Hände zu massieren und sanft ihre einzelnen Finger zu strecken, so gut es die verkürzten Sehnen zulassen. Nach 20 Minuten gehen die Hände etwas auf. Greti erntet Jubel und Applaus. Sie strahlt, dann aber wird ihr Gesicht schnell müde und ihre Augen sinken nach innen. In Zukunft wird dies das Zeitmaß für unsere gemeinsame Arbeit sein: 20 Minuten, dann schaltet Greti ab und ist froh, in Ruhe gelassen zu werden.

Eine Woche später wartet sie schon im Rollstuhl auf dem Gang auf mich, ihre Hände gehen leichter auf, und wir kommen an das Thema der Daumen, die auch bei geöffneten Händen im Handinneren Schutz suchen. Sind sie Bewusstseinsträger an Gretis Händen? Ich spreche sie darauf an, wir haben eine Dialogform gefunden, in der ich frage und sie mit »Ja« und »Nein« bzw. mit Nicken und Kopfschütteln antwortet. Mit der Frage nach dem Schutzbedürfnis der Daumen ernte ich sofort ihre Zustimmung und wir finden Zwischenpositionen für die Daumen, bis sie sich ohne Furcht von der Handfläche lösen können.

Ich bin dicht in Kontakt mit ihrem freien Bewusstsein, der Körper beginnt sich partnerschaftlich in seinem Tempo anzuvertrauen. Sie kann ihre Hände selbst auf Anfrage öffnen und lacht jedes Mal stolz dabei. Ihre Ellbogenbereiche werden lockerer. Sie sitzt nun mit seitlich auf den Armlehnen aufgestützten Armen in ihrem Rollstuhl.

Ihre Betreuer berichten, dass Greti aus ihrer Depression herauskommt und wieder gerne malt. Außerdem wird mir berichtet, dass es in der ganzen Klientengruppe ein positives Stimmungsecho gibt auf die Veränderungen bei Greti. Die Veränderungen geschehen im Millimetertempo, aber für uns ist es ein Meilentempo, und wir feiern jeden noch so geringen Fortschritt.

Christoph ist mir eine wunderbare Unterstützung. Er scheint eine große Heilkraft in seinen Händen zu haben. Während ich direkt an Gretis Körper arbeite, bewegt er seine Hände sanft und behutsam im Abstand von ihrem Körper. Es wirkt beruhigend, ausgleichend und scheint ihre inneren Energien in Fluss zu bringen. Es ist ein gemeinsamer Weg, den wir mit Greti gehen.

Nach ein paar Wochen beschließen Christoph und ich, mithilfe einer neuerlichen Aufstellung unseren Weg mit ihr vom Hintergrund her zu befragen. Die Positionen sind:

Greti in ihrem freien Bewusstsein,

Greti in ihrem gebundenen Bewusstsein,

Christoph als Bezugsperson,

ich als Bezugsperson.

Ich stelle auf, und wir beide, Christoph und ich, gehen hintereinander in die Positionen.

Diesmal hat Gretis gebundenes Bewusstsein einen vagen Bezug zu ihrem freien Bewusstsein. Sie kann gerader stehen und ihr Körper fühlt sich nicht mehr ganz so verpanzert an. In der Herzgegend gibt es einen großen Schmerz, fast unerträglich. Plötzlich beginnt ein Sessel im Raum »mitzuspielen«. Wir nehmen ihn dazu und er wird ganz rasch zum Vater von Greti. Das gebundene Bewusstsein reagiert heftig darauf. Eine starke Liebe zum Vater wird spürbar, und gleichzeitig wird der gebundenen Position speiübel. Wir tippen auf einen sehr frühen Missbrauch, aber selbstverständlich bleibt es bei der Vermutung. Die Botschaft ist schlicht eine tiefe Liebe zum Vater, auch von ihm zu ihr, aber gleichzeitig körperliche Übelkeit und unerträglicher Schmerz im Herzen. Das freie Bewusstsein ist ganz ruhig und »weiß davon«. Ich stelle es als Unterstützung in die Nähe des gebundenen Bewusstseins. Christoph, der auf Greti in der Aufstellung wie ein Schutzengel wirkt, stelle ich neben sie.

Greti selbst, durch viele Räume getrennt von unserer Aufstellung, reagiert heftig darauf. Am Tag danach fällt sie in eine Art Betäubung, die einen ganzen Tag anhält. Sie wird ins Spital gebracht, es gibt keinen Befund.

Als ich das nächste Mal zu ihr komme, zeigt mir ihre Betreuerin begeistert drei Blätter, die sie nach der »Betäubung« gemalt hat. Sie bewegt sich freier und leichter auf dem Papier und ist sehr vergnügt.

Ich versuche zu verstehen. Ich bin auf einem Gelände unterwegs, das mir völlig neu ist, und es gibt niemanden, der mir den Weg erklären kann. Außer meiner schnell erwachten Liebe zu diesen Menschen habe ich nichts anzubieten. Ich kann nur vermuten.

In der eben geschilderten Aufstellung gab es einen zarten Kontakt zu dem freien Bewusstsein. Hat dieser Kontakt es möglich gemacht, dass Gretis gebundenes Bewusstsein es zulassen konnte, den vergrabenen Schmerz aus ihrer ganz frühen Kindheit andeutungsweise zu spüren? Hat dieser Einbruch in Gretis scheinbar gesicherten Behindertenalltag zu dieser Betäubung geführt, sozusagen als Gegenreaktion? Und hat in den Stunden der Betäubung nicht nur Abwehr, sondern auch Klärung stattgefunden? Was hat Greti befreit und wie hat ihre Seele den eventuell aufkeimenden Schmerz verwaltet?

Nie werden wir es erfahren, wir können nur aus unserem eigenen Bezugssystem Hypothesen bilden und müssen darauf verzichten, sie je zu verifizieren.

In einer nächsten Aufstellung hat Gretis gebundenes Bewusstsein erstmalig einen deutlichen Kontakt zu ihrem freien Bewusstsein. Es erscheint ihr als Lichtgestalt, aus der sich bald das Bild der Mutter heraus entwickelt. Etwas wacht als Ahnung in Greti auf. Vielleicht wirkt dieses offensichtlich positive Mutterbild in die kommende Entwicklung hinein.

Greti wird immer offener und zugewandter und eines Tages lässt sie es zu, dass ich ihr den Pinsel in die Hand stecke statt in den Mund. Vorher hatten wir Greifübungen gemacht, mit endloser Geduld reichte sie sich ein Päckchen Papiertaschentücher von links nach rechts und wieder zurück. Auch kann sie ihre Unterarme ein wenig heben und senken, sodass sie mehrere Zugriffsebenen zur Verfügung hat. Sie beginnt nun auch mir die Taschentücher zu reichen und wieder von mir in Empfang zu nehmen. Und irgendwann schütteln wir uns die Hand. Welch ein Fest!

Jetzt aber schaut sie mich skeptisch an mit dem Pinsel in der Hand.

Ich verbinde mich innerlich ganz dicht mit ihrem freien Bewusstsein und lasse keinen Zweifel daran, dass es möglich sein wird, mit der Hand zu malen. Früher, vor Jahren, hatte sie es gekonnt, aber das ist lange her.

Ich halte ihr den Zeichenblock vor die Hand und Greti beginnt. Es werden zarte Zeichen, mit feuchten Buntstiften aufs Papier gesetzt. Wir sind beide aufgeregt. Ich drehe das Papier weiter, damit sie auch dort malen kann, wo ihr Arm sonst nicht hinkäme. Es ist ihre linke Hand, die arbeitet, die konnte sich leichter aus der spastischen Verkrampfung lösen als die rechte. Schließlich ist der ganze Rand des Papiers rundherum bemalt. Greti ist erschöpft und sonnt sich wohlig in unser aller Applaus.

Die Mitte des Papiers ist frei, und ich möchte Greti eine Überraschung bereiten. Ich mache ein Foto von ihr und klebe es in die Mitte. Ihr Gesicht, umrahmt von ihren eigenen Zeichen. Ich bin begeistert von meinem Produkt. Nicht so Greti. Sie reagiert entsetzt und traurig. Zu meiner Verblüffung kann sie in ihrem Gesicht ihre eigene Behinderung erkennen und möchte ganz offensichtlich nicht in dieser Weise damit konfrontiert werden. Meine Rettung aus dieser Situation liegt auf dem Gruppentisch, ein Kunstkatalog. Zur Ablenkung und auch, um meine eigene Verlegenheit über meinen faux pas zu verschleiern, blättere ich das Buch mit Greti durch. Sie bleibt bei den schönen Frauen Klimts hängen. Immer wieder will Greti sie anschauen, die schlanken Hälse, die edlen Köpfe, die eleganten Körper. Greti kann nicht genug bekommen, und langsam hellt sich ihre Stimmung wieder auf.

Was war geschehen? Bisher bin ich, soweit ich das einschätzen konnte, im Wesentlichen ihren Primärgefühlen begegnet. Neugier, Freude, Angst, Ärger, Zutrauen. Diese Gefühle waren direkt auf mich zugekommen, und wir hatten eine Form gefunden, über diese Gefühle zu kommunizieren.

Im Fall des eigenen Bildes scheint sich eine Reflexionsebene dazwischengeschaltet zu haben: das Erkennen und die Ablehnung der eigenen Behinderung bzw. des Erscheinungsbildes der eigenen Behinderung im Vergleich mit Klimts schönen Frauen. Die körperliche Eingeschränktheit wird mit unendlicher Geduld ertragen, sie bestimmt einen vertrauten Alltag und ist, wie wir später sehen werden, ein Schutz.

Hinter all dem lebt aber in Greti offensichtlich der Wunsch nach eigener Schönheit.

Ein wundersamer Heilungsansatz kommt aus ihr selbst. Das ausführliche Betrachten schöner Frauen scheint tröstlich zu wirken. Nimmt sie diese Schönheit so nachhaltig in sich auf, dass sie sie schließlich von innen spürt und für ihre eigene hält? Oder vergisst sie über dem Anblick dieser Bilder schlicht sich selbst? Jedenfalls lächelt sie mich an, nachdem wir das Buch geschlossen haben. Sie lächelt wie eine Frau, die weiß, dass sie schön ist. In diesem Augenblick verströmt Greti einen Zauber, den keine der Klimt-Frauen wohl je hatte.

Ab diesem Tag ergeben sich zwischen Greti und mir fast bei jedem Besuch, bevor wir zu arbeiten beginnen, kleine vertraute Frauenplaudereien. Unsere Kommunikationsebene bleibt die gleiche wie bisher, ich frage, sie nickt oder sagt »Ja« oder schüttelt heftig den Kopf. Wenn sie unentschieden ist, sagt sie »geht«. Das sagt sie ziemlich oft.

Mit der Zeit frage ich nach ihrer Familie, nach ihren Freunden im Wohnheim und wie sie schläft. Es stellt sich heraus, dass ihre spastischen Krämpfe, die sie in der Nacht regelmäßig aufgeweckt haben, viel seltener geworden sind, seit wir miteinander arbeiten. Sie malt, wenn ich da bin, also einmal in der Woche, regelmäßig mit der Hand. Ihre Zeichen werden immer weiter und freier, die Unterarme immer beweglicher. Vor jeder Malerei gibt es das gleiche Programm: Spannungen abstreifen, Massage und Bewegungsübungen.

Greti beginnt jetzt immer mehr mit den Armen auszudrücken. Sie lässt sie lässig links und rechts neben dem Rollstuhl herunterhängen. Wenn ich komme, zeigt sie mir, wie sie die Arme schon heben kann, und zunehmend hält sie es aus, dass ich die Oberarme aus dem Schultergelenk dehne und sie in den Achselhöhlen weite. Angst und Bedrängnis des Herzens siedeln sich sehr oft in den Schultern, Schultergelenken und Achselhöhlen an. Das zeigt sich bei Menschen, die die Schultern hochziehen und die Arme fest an den Oberkörper pressen, als müssten sie ständig durch einen Engpass schlüpfen. Spastisch gelähmte Menschen zeigen dieses Erscheinungsbild besonders ausgeprägt. Wenn Greti Dehnung und Weitung in diesem Bereich zulassen kann, dann ist das ein Zeichen für zunehmende Befreiung und ein Abnehmen der Angst rund um ihr Herz. Das drückt sich auch in ihren Zeichnungen aus. Christoph arbeitet parallel dazu mit seinen Händen an ihr.

Eines Tages komme ich ins Heim. Die Betreuer erzählen mir aufgeregt, dass Greti sich weigert, heute mit mir mit der Hand zu malen und überhaupt nie wieder mit der Hand malen will. Greti bestätigt diesen Bericht mit ihrem »Nein«, das keinen Widerstand duldet. Ich gebe sofort nach und wir unterhalten uns, begleitet von ein bisschen Massage, bis Christoph kommt. Mit seinen Händen stellt er fest, dass Gretis energetisches »Umfeld« sich wie eine dicke Betonschicht anfühlt, die sich durch seine Arbeit nicht lösen lässt. Schließlich versucht er es mit spiralförmigen Bewegungen über dem Kopf, da beginnt ihr Körper wieder zu »fließen«. Sie wird zugänglicher und schließlich will sie doch noch malen und zwar mit der Hand.

Ich gebe Greti einen Buntstift, halte den Block und – bin perplex. Greti malt Spiralen. Selbstverständlich konnte sie Christophs Handbewegungen nicht sehen, sie muss sie gespürt haben und die wohltuende Wirkung, die von diesen Bewegungen ausgegangen ist. Was für eine Feinfühligkeit hinter der Maske der Behinderung! Ihr Körper scheint Greti die Spiralen »gespiegelt« zu haben. Christoph und ich sind hingerissen. Es offenbaren sich uns ungenutzte Chancen der Begegnung und Entwicklung. Aber wie können wir diese Chancen nutzen?

Anschließend machen Christoph und ich eine Aufstellung, um Gretis Verweigerung zu verstehen. Was dabei herauskommt, macht betroffen. Gretis schmerzhafte Lebenserinnerungen tauchen immer mehr auf, werden für sie möglicherweise langsam auch als bildhafte Erinnerungen deutlich. Wir wissen es nicht. Klar ist, Greti möchte lieber wieder zurück hinter das Schutzschild ihrer Behinderung. Die Befreiung, die andeutungsweise im Herzraum stattgefunden hat durch die Befreiung der Arme, gibt dem Schmerz, den Greti so sehr fürchtet, Raum.

Mich stürzt diese sehr nachvollziehbare Entwicklung bei Greti in eine Sinnkrise meiner Arbeit mit Greti, Hubert und den anderen aus dieser Gruppe, mit denen ich inzwischen auch zu arbeiten begonnen habe. Meine Motivation, als ich damit begann, war primär das Interesse an der Bewusstseinskons­tellation von Behinderten gewesen, und mich hatte interessiert, was Aufstellarbeit in diesem Zusammenhang leisten kann. Ich wollte Behinderte nicht als Behinderte sehen, sondern als Menschen in einer extremen Bewusstseinslage, ausgelöst durch ihre außerordentliche Lebenssituation. Mich hatte ein fast klinisches Interesse geleitet.

Aber da war etwas geschehen, womit ich nicht gerechnet hatte: Vom ersten Augenblick der Begegnung an purzelte ich geradezu in eine große Liebe zu diesen Menschen, die sich immer mehr vertiefte und mit einem großen Respekt paarte.

Mir ist eminent wichtig, mein Interesse und das Wohlergehen dieser Menschen vereinen zu können. Bisher ging das auch scheinbar problemlos. Jetzt bin ich an einem Punkt angelangt, wo die beiden Intentionen sich deutlich voneinander trennen. In mir formuliert sich die Frage: »Habe ich das Recht, mich in das Leben dieser Menschen hineinzudrängen und besserwisserisch an ihrem Schicksal herumzubasteln?«

Ich entschuldige mich innerlich bei Greti, hole mir Supervision in Gesprächen mit Christoph und anderen Freunden, aber meine alte Sicherheit kommt nicht wieder. Meine alte Sicherheit fußte auf meiner Naivität und Ahnungslosigkeit.

Bei meinem nächsten Besuch im Heim spreche ich mit Sonja, einer der Betreuerinnen, über diese Gedanken. Wir stehen mitten im Raum, umgeben von den Gruppenteilnehmern, die beschäftigt sind. Greti ist nicht dabei. Ich sage Sonja, dass ich überlege, aufzuhören aus besagten Gründen. Ich sage es leise. Da löst sich Ernst von seinem Arbeitstisch, Ernst, der in seinem Rollstuhl immer still in seiner Ecke sitzt, durchgesägte Blumen malt und nie etwas sagt. Jetzt schießt er geradezu mit seinem Rollstuhl auf uns zu, drängt sich zwischen Sonja und mich und ruft laut: »Bleiben, bitte bleiben«.

Sonja und ich sehen uns überrascht an, mir wird warm ums Herz und meine Sicherheit kehrt langsam zurück. In einer anderen Form allerdings.

Bevor Gretis Verweigerung, mit der Hand zu malen, endgültig wird, und sie ganz erfüllt ist von ihrem lebendigen »Nein«, bitte ich sie, dieses »Nein« mit der Hand zu malen. Ich feuere sie an, laut ihr »Nein« zu rufen und gleichzeitig ein Zeichen aufs Papier zu setzen. Es wird ein Blatt, voll befreiter Ausdruckskraft. Wir haben beide viel Freude daran und dennoch: Gretis Verweigerung, mit der Hand zu malen, ist nun manifest. Sie kehrt zurück zur Mundmalerei und ich überlasse es den Betreuern, sie dabei zu begleiten. Die lebensbejahende Kraft ihres »Nein« bleibt bei mir gespeichert. Noch scheint es nicht an der Zeit zu sein, diesem mächtigen Potenzial Gestalt zu geben.

Ich treffe mit ihr eine Vereinbarung, wir werden hauptsächlich am Körper arbeiten. Massagen, Ableiten von Spannungen, tun ihr besonders gut, sowie Greif- und Bewegungsübungen. Unser gemeinsames Ziel ist, ihren Bewegungsradius zu erweitern und die Vielfalt von Greif- und Zupack-Bewegungen der Hände zu erhöhen. Die früher ängstlichen Daumen agieren jetzt gemeinsam mit Zeige- und Mittelfinger als Greif- und Haltewerkzeug. (Müsste sich das nicht auf die Dauer auch auf ihre Gehirntätigkeit auswirken? Und wenn ja, in welcher Form?)

Greti entwickelt Ehrgeiz und Vergnügen und meistens begrüßt sie mich mit den Handbewegungen, die wir das Mal zuvor geübt haben. Das heißt für mich, dass die Ebene, die wir uns erarbeiten, in der Zwischenzeit nicht ganz verloren geht und sie selbst bewusst einmal gewonnenes Terrain nicht wieder aufgibt. Ich bin ihr so dankbar. Sie nimmt die Weiterentwicklung ihrer Hände und Arme jenseits des Malens gerne an und scheint sich davon nicht bedroht zu fühlen.

Um ganz sicher zu gehen, führe ich eine neue Instanz bei Greti ein und werde von ihr wieder einmal wunderbar überrascht.

»Greti, du weißt sicher, dass jeder Mensch eine innere Heilkraft hat. Auch du hast eine innere Heilerin, die in dir wohnt und dich unterstützt, damit es dir immer besser geht. Bitte sag mir, wo in dir wohnt deine Heilerin?« Ich spreche sie direkt an und lasse keinen Zweifel an der Richtigkeit meiner Worte. Diese Art der Ansprache funktioniert immer zwischen uns und entspricht auch meinem Arbeitskonzept, ohne »Wenn und Aber« das freie Bewusstsein hereinzubitten. Greti schaut mich aufmerksam an, nickt und deutet mit ihrer linken Hand ohne Umschweife auf ihr Herz. »Deine innere Heilerin sitzt in deinem Herzen?« Greti nickt.

Hubert und sein Wissen um die Farbe seiner Seele, Greti mit ihrer inneren Heilerin im Herzen – Dinge, die wir uns allmählich bewusst machen, scheinen für Menschen wie Hubert und Greti spontan verfügbar zu sein.

Wie kommt das?

Ab diesem Zeitpunkt jedenfalls arbeiten Greti und ich nie, ohne zu Beginn die innere Heilerin anzusprechen. Ganz kurz halte ich meine Hand über ihr Herz und sage: »Deine innere Heilerin ist mit bei uns.« Greti nickt. Das genügt.

Inzwischen habe ich begonnen, auch mit anderen Mitgliedern aus der Malgruppe zu arbeiten, Gretis und meine Zeit bleibt auf ca. 20 Minuten beschränkt. Es ist nach wie vor das Zeitmaß, das ihrem Konzentrationsvermögen entspricht. Ich vermute, dass im Inneren von Greti sich während unserer Arbeit viel mehr an Bewegung abspielt, als von außen zu sehen ist, und das erschöpft. Wenn ich auch mit anderen arbeite, Greti ist immer die Erste, die an der Reihe ist, sie ist die Königin meiner Tätigkeit.

In mir ist noch sehr gegenwärtig, wie sie auf die Spiralbewegungen von Christoph über ihrem Kopf reagiert hat: körperlich durch Loslassen, stimmungsmäßig durch Aufhellung und bewusstseinsmäßig durch das Malen von Spiralen. Das bringt mich auf die Idee, direkt an ihrem Körper eine Art von Aufstellungen zu inszenieren.

Es gibt einen konkreten Anlass. Für die ganze Gruppe wird eine Ausstellung organisiert. In dieser Ausstellung sollten alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen Menschen bzw. Gesichter malen. Für Greti bedeutet das, dass sie einen Kreis aufs Papier bringen muss, einen Kreis für ein Gesicht. Bisher hat sie senkrechte Striche oder Halbkreise, von einem senkrechten Strich abgeschlossen, gemalt und, solange sie mit der Hand unterwegs war, Schleifen und Schlingen. Einmal waren es die Spiralen, aber auch die waren nicht rund.

Sie kann mit den Unterarmen, vom Ellbogen weg, nur eine halbe Rotation machen, einem ganzen Kreis steht ihre spastische Lähmung im Wege. Sie malt mit ihrem Mund nur das, was auch ihre Arme an Bewegung ausführen können. Da scheint es einen Zusammenhang zu geben. Das heißt, wenn ich bei ihren Unterarmen eine vollständige Rotationsbewegung erreichen könnte, dann müsste sie die auch mit dem Mund machen können.

Das bringt mich auf den Gedanken einer Körperaufstellung direkt an ihrem Körper. Ich bitte Greti um Erlaubnis, in einer neuen Weise an ihr arbeiten zu dürfen. Sie nickt, weil sie mir inzwischen vertraut, aber ihre Augen sind ratlos.

Fest verbunden mit ihrem freien Bewusstsein lege ich ihr eine Hand auf den Kopf und spreche laut zu Greti: »Das ist dein Gehirn, und es wird sich jetzt daran erinnern, dass dein Unterarm Kreisbewegungen machen kann.«

In mir meldet sich Widerspruch: »Was um alles in der Welt treibst du denn hier?« Und zu Gretis Gehirn sage ich: »Und wenn du dich jetzt gut erinnerst, dann wirst du diese Erinnerung zu Gretis Nacken schicken.«

Meine innere Stimme: »Du weißt doch gar nicht, wo du auf Gretis Kopf die Hand auflegen musst, damit du den richtigen Teil des Gehirns erwischst.«

Ich lege eine zweite Hand auf Gretis Nacken und stelle so mit meinen beiden Händen eine »Telefonverbindung« zwischen Kopf und Nacken her. Ich harre so lange aus, bis es unter meiner Hand am Nacken lebendig wird. Das ist das Zeichen für mich, dass die Botschaft vom Kopf zum Nacken angekommen ist.

Die lästige Stimme in mir murmelt unverständliches Zeug.

Jetzt wechsle ich die Position meiner Hände und stelle eine Verbindung zwischen Nacken und Schulter her. Ich lasse die Schulter sagen: »Das Gehirn hat mir gesagt, dass der Unterarm sich im Kreis bewegen kann, es erinnert sich gerade daran.« Ich bleibe mit beiden Händen so lange auf Nacken und Schulter, bis ich unter meinen Fingern eine Verbindung spüre.

Meine innere Stimme gibt auf. »Mach, was du willst, es schaut eh keiner zu«, dann schweigt sie.

Ich bin wieder meiner Naivität überlassen. Was sich wohl Greti denkt? Nie werden wir es erfahren. Jedenfalls bleibt sie geduldig sitzen und lässt es geschehen. Meine Hand an der Schulter wechselt zum Ellbogen, die andere Hand bleibt am Nacken. Ich spreche, repräsentierend für sie, immer wieder denselben Text, der keinen Zweifel daran lässt, dass das Gehirn sich erinnert und der Körper die Erinnerung erkennt und da­rauf reagiert. Ich wechsle die Positionen meiner Hände immer wieder, verbinde Ellbogen mit Kopf oder Ellbogen mit Schulter oder auch Nacken. All das mache ich an Gretis linker Seite. Ich bleibe mit meinen Händen jeweils so lange am selben Platz, bis ich unter meinen Fingern den Lebensstrom von Gretis Körper spüre. Ich arbeite langsam und spreche die Texte der Positionen mit großer Eindringlichkeit. Es ist mir bewusst, dass ich alte Erinnerungen an Möglichkeiten und Zusammenhänge aufzuwecken versuche, ebenso ist es mir bewusst, dass sie in Gretis Archiv noch vorhanden sind.

Schließlich habe ich das Gefühl, dass es genug ist, und höre auf. Greti ist, glaube ich, während meiner Aufstellung auf ihrem Körper ein bisschen eingeschlafen. Sie hebt ihren Kopf, der leicht vorgebeugt war und schaut mich fragend und ziemlich verschlafen an. Ich setze mich ihr gegenüber und bitte sie, mit mir die Unterarmrotation zu üben, an die sich ihr Gehirn gerade erinnert. Zuerst bewege ich ihren Unterarm passiv, indem ich ihr Ellbogengelenk halte und den Unterarm sanft und vorsichtig führe. Die spastische Blockade scheint tatsächlich lockerer. Es werden noch etwas seltsame Kreise, aber immerhin Kreise. Langsam lassen sich die Kreise erweitern, aber immer noch in der passiven Bewegung.

Das nächste Mal wiederhole ich die Aufstellung und bewege wieder passiv ihren Unterarm. Ihre Greifbewegungen werden leichter, auch ein Zeichen des sich allmählich befreienden Unterarms. Das übernächste Mal – wieder nach einer kurzen Massage und Erinnerungsaufstellung – geschieht das Wunder. Ich werde es nie vergessen. Greti zieht mit ihrem Unterarm selbstständig zarte Kreise, ganz ohne meine Hilfe. Sie schaut dabei in höchster Anspannung auf mich. Mein Jubel kennt keine Grenzen, alle im Raum laufen zusammen und für jeden lässt sie ihren Unterarm kreisen. Sie ist der Star.

Langer Rede kurzer Sinn: Greti malt – mit dem Mund – Kreise für die Ausstellung!

Ist meine Rechnung aufgegangen? Oder war es ein glücklicher Zufall?

Wir hinterfragen ihren Zustand erneut durch eine repräsentierende Aufstellung. Diesmal ist Sonja, eine der Betreuerinnen, meine Arbeitspartnerin. Sonja ist verunsichert, weil Greti in letzter Zeit sehr widerspenstig ist. Wir stellen auf:

Gretis gebundenes Bewusstsein,

Gretis freies Bewusstsein,

Sonja.

Sehr rasch stellt sich heraus, dass Gretis derzeitige »Sturheit« nichts mit Sonja zu tun hat, sondern mit einer Situation in ihrem Wohnheim. Außerdem bekommt sie zunehmend Kontakt zu ihrem freien Bewusstsein, kann das aber nicht ganz einordnen. Aus beiden Gründen ist ihre Rundumverweigerung sicher eine erfolgreiche Strategie des Schutzes.

Diesmal gehe ich erstmalig einen Schritt weiter in der Begleitung der Aufstellung und spreche Gretis gebundenes Bewusstsein anders an. Ich fordere sie heraus und bitte sie, sich ihren Weg in eine Heilung vorzustellen, was immer diese Heilung auch sein mag.

Sonja, in der Position der »gebundenen Greti«, nickt, kann diesen Weg sofort wahrnehmen. Er geht in Richtung freies Bewusstsein, aber nicht direkt darauf zu, sondern knapp rechts daran vorbei. Ich bitte sie, den Platz des gebundenen Bewusstseins von Greti – so wie es zum gegebenen Zeitpunkt ist – zu verlassen und im Zeitlupentempo zu beginnen, den Weg in eine eventuelle »heilere« Zukunft zu gehen. Im Zeitlupentempo aus zwei Gründen: erstens, um ihr Bewusstsein nicht zu überfordern durch überfallartige Eindrücke und zweitens, damit ich die Stadien dieses Weges genau erkennen kann.

»Greti gebunden heute« setzt sich in Bewegung, die Angst vor dem Leben wird immer größer, schließlich kann sie kaum mehr weitergehen. Links neben dem Weg in Richtung Heilung steht ihr freies Bewusstsein, wohl als stille Unterstützung. Denn »Greti gebunden heute« geht weiter und es wird leichter, immer leichter. Sie richtet sich auf und bewegt sich sicherer. Ich bitte sie, zurückzuschauen, dorthin, wo sie ihren Weg begonnen hat. Sie ist jetzt nicht mehr »Greti gebunden heute«, sondern hat sich verwandelt in »Greti auf dem Weg«. »Greti auf dem Weg« schaut auf den Platz der »gebundenen Greti heute« zurück, den ich mit meiner Hand repräsentiere, und sieht dort so etwas wie eine Schwester aus der Vergangenheit stehen. Sie möchte nicht zurück.

Was bedeutet das für eine zukünftige Arbeit mit Greti, was bedeutet es für sie und ihr Leben? Ist das eine Information, die so tief unter ihrem für sie erreichbaren Bewusstsein liegt, dass wir ihr in Greti selbst nie begegnen werden? Was für eine Heilung könnte es sein, auf die Greti zugegangen ist?

Ich hätte die Heilung stellen können, um eventuell Information über ihre Qualität zu bekommen, aber irgendwie hatte ich Scheu davor. Jetzt geht es um den Weg, er bestimmt das Ziel. Das Ziel selbst ist ein Geheimnis, das nur Gretis Seele kennt. Sie wird es uns enthüllen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist – falls er kommt. Die letzte Aufstellung hat die Ahnung eines neuen Weges gezeigt – aber was dann?

Ich hatte noch eine Menge Gedanken und Kommentare zu der Arbeit mit Greti notiert. Jetzt lösche ich sie. Das ist gut so. Die Geschichte spricht für sich. Während der Arbeit habe ich Hypothesenbildungen in mir nicht verhindern können und bin ihnen auch nachgegangen. Es hat sich ein »Weg« mit Greti ergeben. War es ihr Weg, war es mein Weg, war es unser gemeinsamer Weg?

Wir, Greti und ich, haben eineinhalb Jahre für diesen Weg gebraucht, der für mich unendlich kostbar war und ist.

In tiefem Respekt vor dem Schicksal dieser Menschen möchte ich mich bei ihnen dafür bedanken, dass ich sie ein kleines Stück auf ihrem Weg begleiten durfte. Ich habe viel von ihnen gelernt.